Ulrike Kregel
Bild und Gedächtnis
Kaleidogramme Bd.51
Berlin 2009
282 Seiten
15 x 23 cm, broschiert
ISBN 978-3-86599-088-4
„Im Kontext einer langen kulturellen Tradition artifizieller Bildproduktionen des Menschen erscheint die Linie gleichsam als eine genuine Form des Sichtbaren und eine genuin memorierende Geste. Mit ihr eröffnet sich in der Theorie der Horizont eines gemeinsamen Entstehungszusammenhanges von zeigen –zählen und merken respektive von artifizieller Bildproduktion und artifiziellem Gedächtnis. […]
Ich zeichne eine Linie auf einen Grund und treffe so eine Unterscheidung im Bereich des Sichtbaren, mit der etwas Neues hervorgebracht wird, eine Form, ein Bild, das Bild einer Linie.
Die im Unterscheiden hervorgebrachte Linie [ist] eine genuine Form des Zeigens, [die ihr] Sichtbar-Sein vor dem „leeren Tableau“ als dem Nichtsichtbaren [begründet], […] darin [ist die Linie] unmittelbar mit der Unterscheidung zwischen den Zahlen Eins und Null respektive mit der Differenz der ihnen zugeordneten Mengen verbunden […] wie sie uns heute im digitalen Bild respektive im binären Code begegnen, der als Code der Differenz schlechthin letztlich jedem Werden bzw. Sein zugrunde gelegt werden kann, so auch dem Bild-sein. […]
Angefangen von der Linie als frühes Zähl- und Merkzeichen sowie als genuine Form des Zeigens, wie sie uns beispielsweise auf den Kerbhölzern überliefert ist, bis hin zum digitalen Bild, existiert nicht nur jedes artifizielle Bild mit dem Potential Gedächtnis zu etablieren, sondern lässt sich darüber hinaus grundsätzlich im Kontext dieser drei Bezugnahmen auf – die Existenz, die Zeit und das Sehen – und den hier zu treffenden Unterscheidungen theoretisch bestimmen. […]
Denn schon die Linie als genuine Form des Zeigens und einfachste Darstellung der Zahl Eins bzw. der Menge Eins, der prinzipiell das Nichts respektive die Leermenge gegenübersteht, ist in dieser Weise, binär nämlich über die Zahlen Eins und Null codiert. Eine Tatsache, die den unmittelbaren Zusammenhang von Zählen und Zeigen evident zur Ansicht bringt und überdies auf das Memorieren verweist, was darauf schließen lässt, dass nicht nur das Bild, sondern ebenso das Gedächtnis durch eine binäre Codierung charakterisiert werden kann. Denn der binäre Code ist der Code der Differenz schlechthin und kann, differenztheoretisch betrachtet, in einem archetypischen Sinn allem Werden und Sein, besser gesagt, unseren Wahrnehmungen davon und damit unserem Denken strukturell zugrunde gelegt werden.
[…] in der Interaktion sowie in der aufeinander bezogenen Existenz von Bild und Gedächtnis [lässt sich] ein kultureller Topos entdecken, der sich im Kontext der Dualität beider Phänomene realisiert und gleichsam einen veränderlichen Zusammenhang wie ein Kontinuum bezeichnet. […]
Das im Bereich des Visuellen vermittels des artifiziellen Bildes erzeugte Gedächtnis ist ein Konstrukt, das sich uns im Spannungsfeld der dualen Existenz des Bildes – seiner Faktizität im Außen und seiner Konstruktivität als einem Akt des Bewusstseins - und der Dualität des Phänomens Memoria offenbart, in der das Bild zugleich als Gedächtnis- und Erinnerungsbild fungiert, mithin als ein der Dingwelt zugehöriges Objekt und ein sich im Subjekt ereignender Prozess.“